Seiten: 176, Hardcover Verlag: Schöffling & Co. ISBN-10: 3-89561-185-9 ISBN-13: 978-3-89561-185-8 Erschienen: 15. Februar 2010
"Flamingos stehen in Gruppen, aber jeder einzelne ist allein. Sie halten Abstand. Sie sind wachsam … Sie erwecken den Anschein, als wären sie gar nicht da. Sie sind aber da. Sie stehen mitten unter uns …" Mag dieser Textauszug aus dem Erzählband anstelle einer Beschreibung etwas befremdlich wirken, erweist er sich im Nachhinein als die passendste, welche man den Kurzgeschichten von Ulrike Almut Sandig geben kann.
Die in Leipzig wirkende Autorin, welche bereits mit ihren Gedichten vielfach ausgezeichnet wurde, hat in ihrem Erzähldebüt elf Kurzgeschichten zusammengetragen, die von nicht mehr und nicht weniger erzählen als vom Leben. Sie stehen jeweils für sich allein und gehören doch zusammen. Sie erzählen jeweils von vermeintlichen Ausnahmeschicksalen, welche jedoch inmitten von dem stehen, was wir Normalität nennen.
Dazu wird der Leser in "Über mich" zunächst in dem rückwärtsgewandten Lebenslauf einer bereits Verstorbenen an den Anfang gesetzt. Aus der Ich-Perspektive wird erzählt, wobei der Ich-Erzähler den Leser direkt anspricht. Oft genug ertappt man sich dabei, auf sein eigenes Leben zurückzublicken. Das Leben bei "Hush little Baby" beginnt mit Kai Arno, welcher nach der Fehlgeburt seines Zwillingsbruders aus zwei Seiten zu bestehen scheint, mit sich selber redet und die einzige Zuflucht in der Jazzmusik findet.
Zuflucht suchen auch die anderen Charaktere der Geschichten, wenn auch jeder woanders und auf seine ganz eigene Art und Weise.
Ob nun Malve in "Salzwasser" über den Verlust ihrer Mutter nicht hinwegkommt und stattdessen ihrer älteren Schwester vorwirft, sie sei anstelle eines Krankenhausaufenthaltes am Schwarzen Meer diese besuchen gewesen, oder der junge Michael in "Mond" seiner Mutter und ihrem dominanten Verehrer wie ein heimlicher Beobachter folgen muss – fast immer geht es um Verlust und die Zuflucht in Gedankenwelten, die verzweifelt Erklärungen für die vergangenen Geschehnisse suchen.
"Also haben auch Sie die Flamingos nicht gesehen, und auf keinen Fall haben Sie gehört, wie sie schreien, wenn ein Besucher zu nah herantritt, weil Sie nie herangetreten sind …"
Der Blickwinkel der Erzählungen ist, außer bei "Mond", immer der des Unbeteiligten, des Beobachtenden. Man kann den Ereignissen folgen. Jegliche näheren Bezüge zu den Personen oder Handlungen bleiben jedoch freiwillig. Diese fast schon distanzierte Sichtweise wird durch das Fehlen von Satzzeichen der Emotionen oder Dialoge noch verstärkt. Was auf welche Art und Weise wie zu wem gesagt wird, bleibt meistens undefiniert.
Auch fehlen den Personen, bis auf die Namen, nahezu jegliche Personifizierungen, was zum Sich-Wiederfinden einlädt. Muss aber nicht, denn der klare, wertneutrale Blick gleicht dem eines Kindes. Nicht umsonst geht es in den Erzählungen oft um Kinder.
Am Ende stehen elf Auszüge aus elf verschiedenen Leben, welche ohne Pathos für sich stehen. Das Wesentliche befindet sich zwischen den Zeilen. Ob man lachen oder weinen soll, muss man selbst entscheiden.
Eine Lese- und Hörprobe befindet sich auf der Verlagsseite: www.schoeffling.de.
Vielen Dank an den Verlag Schöffling & Co. für die Bereitstellung des Rezensionsmaterials! |